Geschichte

Leise nach Hause gehen

Anna und Jenny - Ein Paar für alle Fälle

Anna grinst, greift zur alten Acrylkiste und schlägt vor, aus dem leerstehenden Schaukasten vor der Schule ein buntes Liebesstatement zu machen. Jenny zögert kurz wegen der Regeln und möglichen Konsequenzen, doch als sie die ersten Pinselstriche auf das Glas legt, lösen sich ihre Zweifel in Farbe auf. Passanten bleiben stehen, ein Lehrer zieht die Stirn kraus, aber die schiefen Herzlinien ziehen auch bewundernde Blicke an und machen die Luft leichter. Am Ende halten sie Händchen vor dem Glas, beide noch leicht klebrig von der Farbe, und merken, dass ihr kleiner, mutiger Einfall die Stadt für einen Augenblick zärtlich verändert hat.

Ohne lange zu überlegen klettern sie die Hintertreppe hinauf, die Acrylkiste wackelt in Annas Arm und eine alte Decke hängt wie ein Fahnenzeichen über Jennys Schulter, während die Schulglocke im Rücken verklingt. Auf dem Flachdach breiten sie die Decke aus, setzen sich dicht nebeneinander und sehen zu, wie die Sonne die Ziegel und Laternen in warmes Kupfer taucht. Anna holt einen Thermosbecher hervor, Jenny lacht, als ein Windstoß eine Serviette packt, und beide greifen gleichzeitig danach, so dass ihre Finger sich für einen Moment ineinander verhaken. Unten ruft jemand, ein Fenster schlägt auf, aber oben wirken die Geräusche gedämpfter und die Stadt verliert ihre Schärfe, während sie zusammengerückt dem langsamen Verblassen des Lichts zuschauen.

Sie beschließen, bis die Dunkelheit sich endgültig über die Stadt legt, oben zu bleiben und die Decke enger um ihre Schultern zu ziehen. Langsam wird das Rot der Dächer blasser, die ersten Straßenlaternen klicken an und ihre Gesichter sind nur noch Schemen im warmen Schein. Anna bietet Jenny den Thermos an; sie teilen den heißen Tee, und ihre Gespräche werden leiser, als hätten die Straßen unter ihnen ein eigenes Gesetz für Geschichten erlassen. Als schließlich die Lichter wie ferne Sterne aufleuchten, fühlen sie eine schützende Nähe, die die Unsicherheit der letzten Stunden mildert und die Welt für einen Moment klar und klein macht.

Sie lassen die Worte verklingen und rücken instinktiv näher, als könnten sie die Stille wie eine zweite Haut spüren. Der Tee wird wärmer, kühlt wieder ab, und ihre Hände suchen einander, um die Tassen zu teilen, ohne ein einziges Wort. Unten rauscht die Stadt weiter, Lichter wandern, Autos summen, während sie über den Rand des Daches schauen und in der Dunkelheit kleine, vertraute Dinge entdecken. Als die Luft merklich kälter wird, ziehen sie die Decke enger um sich und wissen wortlos, dass dieser stille Abend ihnen etwas gegeben hat, das länger halten könnte.

Sie rollen die Decke zusammen und stehen langsam auf, Anna spürt noch das warme Gewicht von Jennys Hand in ihrer. Vorsichtig tasten sie sich zum Treppenaufgang, wobei das Knarren einer Stufe sie beide anhalten lässt. Draußen im Hof ist alles in Schatten getaucht, nur eine Laterne wirft einen schmalen Lichtstreifen auf das Pflaster. Sie halten die Köpfe tief, laufen im Zickzack zwischen Hecken und Mülltonnen und vermeiden so die Straße, auf der noch vereinzelt Leute unterwegs sind. Ein Hund bellt kurz, dann verstummt er wieder, und als niemand die Haustür öffnet, atmen sie beide hörbar auf. Anna zieht Jennys Jacke fester um ihre Schultern, als die Kälte sie trifft, und fühlt sich dabei gleichzeitig beschützt und unsicher. Als sie das Tor zur Straße erreichen, entscheiden sie sich für den langen, ruhigen Weg durch die Nebenstraßen, statt die belebte Hauptstraße zu nehmen. Die Laternen machen goldene Inseln, und sie schleichen auf den Gehwegen, so leise wie möglich, damit niemand ihren heimlichen Triumph bemerkt. Unterwegs tauschen sie kaum Worte, nur kleine Blicke und gelegentliche Lächeln, die stiller sprechen als Sätze. Als sie schließlich vor Jennys Haus stehen, lösen sie die Hände nur widerwillig und wissen, dass die Dunkelheit ihnen gerade einen sicheren Rückzugsort verschafft hat.

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