Geschichte

Ihn nach seinen Dachnächten fragen

Anna und Jenny - Ein Paar für alle Fälle

Anna grinst, greift zur alten Acrylkiste und schlägt vor, aus dem leerstehenden Schaukasten vor der Schule ein buntes Liebesstatement zu machen. Jenny zögert kurz wegen der Regeln und möglichen Konsequenzen, doch als sie die ersten Pinselstriche auf das Glas legt, lösen sich ihre Zweifel in Farbe auf. Passanten bleiben stehen, ein Lehrer zieht die Stirn kraus, aber die schiefen Herzlinien ziehen auch bewundernde Blicke an und machen die Luft leichter. Am Ende halten sie Händchen vor dem Glas, beide noch leicht klebrig von der Farbe, und merken, dass ihr kleiner, mutiger Einfall die Stadt für einen Augenblick zärtlich verändert hat.

Ohne lange zu überlegen klettern sie die Hintertreppe hinauf, die Acrylkiste wackelt in Annas Arm und eine alte Decke hängt wie ein Fahnenzeichen über Jennys Schulter, während die Schulglocke im Rücken verklingt. Auf dem Flachdach breiten sie die Decke aus, setzen sich dicht nebeneinander und sehen zu, wie die Sonne die Ziegel und Laternen in warmes Kupfer taucht. Anna holt einen Thermosbecher hervor, Jenny lacht, als ein Windstoß eine Serviette packt, und beide greifen gleichzeitig danach, so dass ihre Finger sich für einen Moment ineinander verhaken. Unten ruft jemand, ein Fenster schlägt auf, aber oben wirken die Geräusche gedämpfter und die Stadt verliert ihre Schärfe, während sie zusammengerückt dem langsamen Verblassen des Lichts zuschauen.

Anna rückt ohne Worte näher, ihre Hand findet Jennys Wange und für einen Atemzug klingt die Stadt wie durchs Wasser. Sie küssen sich leise, ein kurzer, heimlicher Druck der Lippen, und beim Zurückziehen schmeckt Anna das mineralische der Acrylfarbe an Jennys Mundwinkel. Jenny flucht kaum hörbar, weil ein dünner Streifen Farbe an ihrer Lippe klebt, und sofort folgen gedämpftes Kichern und hastiges Abwischen mit dem Handrücken. Ein Schatten fällt über die Dachkante, sie lösen sich auseinander, noch Hand in Hand, und die winzigen Farbtupfer auf ihren Fingern glitzern wie geheime Abdrücke.

Ein Kratzen an der Dachluke lässt sie zusammenzucken, dann erklingt eine ruhige Stimme, die fragt, ob dort oben jemand sei. Jenny atmet tief ein, löst ihre Hand aus Annas Griff und antwortet, dass sie nur ein bisschen Farbe verstreut hätten und nichts Schlimmes im Sinn sei. Der Besucher steigt langsam über die Luke, ein Mann mit salzgrauen Haaren und Farbe an den Fingern, und er lächelt, weil die schiefen Herzen ihn anscheinend an etwas Vertrautes erinnern. Statt zu schimpfen reicht er ihnen eine Thermoskanne und bietet an, Wache zu halten, bis die Farbe getrocknet ist, woraufhin die Anspannung von ihren Schultern gleitet.

Sie nahmen das Angebot an, kletterten durch die Luke in den warmen, verwinkelten Dachraum und setzten sich auf eine alte Isomatte, während der Mann die Thermoskanne öffnete und der Duft von starkem Tee leise durchs Holz zog. Anna hielt die Tasse mit beiden Händen, die bunten Farbflecken an ihren Fingern schimmerten im Licht einer kleinen Lampe, und Jenny kostete vorsichtig, wie jemand, der ein verbotenes Versprechen prüft. Er erzählte, ohne zu drängen, von frühen Morgenstunden auf Dächern und von Schaufenstern, die er einmal bemalt hatte, und seine Stimme war so ruhig, dass sie wie ein Pinselstrich über ihre Unruhe fuhr. Langsam löste sich die Anspannung, leises Lachen mischte sich mit Schlucken, und als die Tassen fast leer waren, merkten sie, dass die Stadt draußen durch das Glas sanfter wirkte als zuvor.

Sie fragten ihn nach den Nächten auf den Dächern, und sein Blick wurde sofort weich. Er zog die Hand vom Thermosrand zurück, dachte einen Moment nach und begann dann zu erzählen. Er sprach von frühen Stunden, wenn die Stadt noch atmete und er mit Pinsel und Geduld Fenster und Schaufenster verwandelte. Unter der Matte suchte er nach etwas und zog ein abgegriffenes Skizzenbuch mit getrockneten Farbspritzern hervor. Die Seiten waren voller schneller Skizzen und verblasster Polaroids von Horizonten, die in Tintenpunkten nachleuchteten. Anna und Jenny beugten sich darüber, ihre Finger streiften dieselbe Seite und ein leises, erstauntes Lachen sprang zwischen ihnen auf. Im warmen Lampenschein wirkten die gezeichneten Dächer lebendig, und sie stellten Fragen, die er mit ruhiger Stimme und kleinen Gesten beantwortete. Als er von einem Morgen erzählte, an dem er heimlich ein winziges Herz an ein Schaufenster malte, lagen in seinen Augen zugleich Reue und eine seltsame Zärtlichkeit. Dann sagte er, er könne ihnen sein Lieblingsdach beim nächsten Sonnenaufgang zeigen, sofern sie vorsichtig und leise kämen. Die beiden nickten, die Idee legte ein prickelndes Versprechen zwischen ihnen, und die Thermoskanne stand halb geleert da, während die Farbflecken an ihren Händen im Licht glänzten.

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