Geschichte

Ins Tor schleichen

Anna und Jenny - Ein Paar für alle Fälle

Anna grinst, greift zur alten Acrylkiste und schlägt vor, aus dem leerstehenden Schaukasten vor der Schule ein buntes Liebesstatement zu machen. Jenny zögert kurz wegen der Regeln und möglichen Konsequenzen, doch als sie die ersten Pinselstriche auf das Glas legt, lösen sich ihre Zweifel in Farbe auf. Passanten bleiben stehen, ein Lehrer zieht die Stirn kraus, aber die schiefen Herzlinien ziehen auch bewundernde Blicke an und machen die Luft leichter. Am Ende halten sie Händchen vor dem Glas, beide noch leicht klebrig von der Farbe, und merken, dass ihr kleiner, mutiger Einfall die Stadt für einen Augenblick zärtlich verändert hat.

Nach dem Schaukasten blieben die beiden noch eine Weile stehen und sahen zu, wie die Farben im Abendlicht trockneten. Anna schlug vor, den Abend nicht enden zu lassen, und Jenny nickte, weil sie noch nicht genug von diesem kleinen Aufruhr hatten. Sie schlichen zum Park, versteckten eine Kiste mit Sprühdosen in Annas Rucksack und traten leise auf den von Laternen gesprenkelten Pfad. Dort suchten sie eine Mauer unter einer Brücke aus, die abgeschieden und doch sichtbar genug schien, um jemandem mitten in der Nacht eine Freude zu machen. Jenny hielt die Dose, während Anna die Konturen vorzeichnete, und ihr Herz klopfte so laut, dass sie jeden Schritt fürchten musste. Ein Hund verbellte sie plötzlich in einiger Entfernung, und sie erstarrten, während eine Laterne flackerte und Schatten wie Finger über den Beton krochen. Kurz darauf näherte sich eine Gestalt, die ihnen in den dunklen Momenten wie ein Wächter erschien, und sie drückten instinktiv die Dosen tiefer an den Körper. Als die Person näherkam, stellte sich heraus, dass es nur ein älterer Mann mit einer Taschenlampe war, der seine Runde drehte und nur kurz stehenblieb, um die frischen, heimlichen Spuren neugierig zu mustern. Er schüttelte den Kopf, tuschelte etwas, das mehr wie ein Lächeln klang als eine Tadelung, und ging weiter, sodass sie mit zitternden Händen das letzte Herz vollendeten. Als sie fertig waren, blieb das laute Blut in ihren Ohren, aber auch ein stiller Triumph, und sie verschwanden in die Nacht, ohne sicher zu wissen, ob es Ärger geben würde.

Jenny zog das Smartphone aus der Tasche und hielt es zitternd über das Herz, während Anna die letzten Farbspritzer mit dem Handrücken abstrich. Als sie das Bild machte, blitzte das Display kurz auf und warf ein kleines, weißes Licht auf das Graffiti, das im Dunkel wie ein leuchtender Tropfen wirkte. Der Lichtkegel ließ eine Gestalt in der Ferne zusammenzucken, ein Geräusch wie Schritte kam näher, und die beiden hielten den Atem an, weil das Foto sie plötzlich wieder sichtbar machte. Doch als sie das Bild betrachteten, lachten sie leise, weil auf dem Foto nicht nur das Herz zu sehen war, sondern auch ihre unordentlichen Hände, die sich im Halbdunkel wie Beweise eines zärtlichen Komplotts hielten.

Sie drückten die Hände enger an den Körper, schoben das Handy tief in die Jackentasche und schafften es, ohne einen Laut zu machen, in den Schatten am Wegesrand zu rutschen. Als die Fußschritte näherkamen, hielten sie den Atem an, sahen durch das Blätterdickicht, wie die Silhouette vorüberging, und erst als die Schritte weiterzogen, löste sich die Anspannung aus ihren Schultern. Vorsichtig krochen sie wieder auf den Pfad, setzten einen Fuß vor den anderen, bis die Laternen sie wieder streiften und sie sich mitten unter einer kleinen Gruppe Spaziergänger verloren. Erst jetzt, als die Stimmen des Abends sie umgaben, erlaubten sie sich ein leises Lachen und einen Blick auf das Display, auf dem das Foto unverändert und unversendet flackerte.

Sie beschlossen, den Moment nicht verstreichen zu lassen und schlichen ins nächste Café, wo die Schwingtür leise klingelte. Im warmen Licht und zwischen dem Duft von Kaffeebohnen und Zimt wirkten ihre klebrigen Hände plötzlich weniger wie Beweise eines Vergehens und mehr wie Medaillen, und sie bestellten heiße Schokolade und einen Espresso zum Anstoßen. Während sie an einem Ecktisch Platz nahmen, zog Jenny das Foto hervor und zeigte es Anna; beide lachten, als das Display die Farbe noch einmal zum Leuchten brachte, und eine ältere Frau, die ihnen gegenübersaß, lächelte verständnisvoll. Das Gefühl von Erleichterung mischte sich mit Übermut, sie planten bereits flüsternd die nächste kleine Rebellion, ohne zu wissen, ob die Nacht sie noch weiter tragen würde.

Sie verließen das Café mit schnellem Atem, die warme Luft hinter sich lassend, und beschlossen, die Nacht noch weiter auszukosten. Die Straßen wirkten leerer, aber zugleich offener, Laternen warfen Inseln aus Licht in Pfützen und ihre Stimmen wurden nur zu Flüstern. An einer Ecke entdeckten sie ein altes, mit Plakaten überklebtes Tor, dessen Rost wie einladende Zacken aussah, und Anna zog Jenny impulsiv daran weiter. Jennys Foto vom Herz glomm in ihrer Jackentasche wie ein geheimer Beweis, der hinter jeder Hausecke die Möglichkeit eines kleinen Aufruhrs versprach.

Anna trat näher an das Tor, schob ein losgerissenes Plakat zur Seite und spähte durch die schmale Ritze. Jenny folgte ihr, presste die Hände an den Stoff ihrer Jacke und erkannte am Metall Kratzer sowie frische Farbspritzer, die eindeutig nicht von ihnen stammten. Durch die Lücke sahen sie einen verwinkelten Innenhof, schwach beleuchtet, mit einer Bank und einem halbfertigen Schriftzug an der Wand, der wie eine Einladung wirkte. Als der Wind eine Ecke des Plakats anhob, wussten sie plötzlich, dass ihr genaues Hinschauen sie vor eine Entscheidung stellte: hineinschlüpfen oder lieber still bleiben.

Sie zwängten sich dicht aneinandergedrückt durch die schmale Öffnung des Tores, der kalte Metallrahmen scheuerte an ihren Jacken, und drinnen schluckte die Luft nach Farbe und feuchtem Zement. Der Innenhof war überraschend weit, von einer schwachen Glühbirne erhellt, auf einer Wand prangte ein halbfertiger Schriftzug und neben einer Bank lagen Pinsel, Farbdosen und eine angefangene Leinwand, als hätte hier jemand auf heimliche Mithilfe gehofft. Fingerspitzen klebten beim ersten Strich, dann löste sich die Unsicherheit in konzentriertem Arbeiten, und als sie ihr Herz neben den Buchstaben setzten, trat eine Person aus der Dunkelheit und klopfte ihnen nicht vorwurfsvoll, sondern mit einem müden, warmen Lächeln auf die Schulter. Sie blieben eine Weile schweigend, teilten einen Blick voller Triumph, wuschen sich später im Waschbecken hinter dem Hinterhaus die Farbe ab und gingen bei den ersten Blüten des Morgens nach Hause, mit dem Gefühl, dass ihr nächtlicher Einfall nicht nur eine Wand, sondern auch etwas in ihnen verändert hatte.

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