Geschichte

Entziehe mich und fliehe

Protokoll der moralischen Paradoxien

Im Protokoll der moralischen Paradoxien vermerke ich nüchtern die Störung, zu deren Behebung ich entsandt wurde. Statt das Standardprotokoll anzuwenden, improvisiere ich eine ungewöhnliche Intervention, die auf Intuition und erfinderischen Umwegen basiert. Die unmittelbare Folge ist paradox: die Anomalie legt sich, doch die Zeugen beginnen, Erinnerungen zu konstruieren, die vorher nie existierten und nun als echte Trauer empfunden werden. Ich spüre sofort, dass meine kreative Abweichung das ethische Gefüge verschoben hat und neue Schuldfragen wie Risse durch die Gemeinschaft ziehen.

Ich glätte die Fluktuationen, indem ich die Chronologie behutsam verzahne und unscheinbare Erinnerungsbrücken einfüge, die den Schmerz in plausible Herkunftsmythen lenken. In den Akten überarbeite ich Notizen, fülle Lücken mit vertrauten Details und lasse scheinbar zufällige Bilder genau dort auftauchen, wo Lücken entstanden waren. Die Menschen atmen erleichtert, ihre Trauer nimmt berechenbare Formen an, doch mit jedem korrigierten Rückruf wächst eine feine Risslinie in meinem Gewissen, die ich durch penible Protokollanpassungen zu übertünchen suche. Als ein Kollege mißtrauisch nachhakt, serviere ich ihm eine so selbstverständlich konstruierte Alternative, dass er sie annimmt, während die Lüge beim Aussprechen an mir klebt.

Ich beginne, das Narrativ systematisch auszuweiten, verpflanze nebensächliche Details zu Legenden, setze Namen auf vermeintliche Opfer und erfinde Orte, an denen sich die Schicksale kreuzen. Die Dorfbewohner nehmen die neuen Stränge gierig auf, weben sie in Reden bei Totenwachen und in Kinderreimen, und bald tragen sie die Konstrukte so selbstverständlich vor, als wären sie immer dagewesen. Meine Rolle verändert sich: aus dem stillen Korrektor wird ein heimlicher Geschichtenerzähler, dessen Einfälle Gemeinschaftsidentität formen, während ich zugleich ein wachsendes Gewicht von Verantwortung und Scham mit mir herumtrage. Als direkte Folge wird der misstrauische Kollege beruhigt, weil die erweiterten Erinnerungen seine Fragen in harmlose Anekdoten verwandeln, doch ich weiß, dass jede zusätzliche Faser der Erzählung mich tiefer verstrickt.

Ich finde den Zweifler im Halbdunkel der Kapelle, trete dicht an ihn heran und lege ihm die überarbeiteten Protokolle ohne Umschweife vor. Er sieht nicht überrascht aus, sondern herausgefordert, stellt mir kalte Fragen und verlangt Erklärungen, woraufhin mir die Stimme stockt und die Entscheidung zur Offenlegung schwer auf mir lastet. Statt einer bloßen Rechtfertigung ziehe ich eine kleine, zuvor eingepflanzte Erinnerung in Gedanken hervor, lasse ihn an einen angeblichen Abschied denken und beobachte, wie Zorn in gespeicherte Trauer übergeht. Er bricht zusammen, weint fast, stimmt dann mit gedämpfter Stimme zu, die Konstruktion zu schützen, und ich bleibe allein mit dem bitteren Wissen, dass meine Instrumentalisierung von Leid unaufhebbare Risse in mir geschlagen hat.

Die Kapellentür schließt sich leise hinter mir, und ich spüre, wie die Realität der Lüge an meinen Schultern zerrt. Anstatt zu bleiben und mich den Fragen zu stellen, treibe ich mich weg, bewege mich stockend durch die schmalen Gassen, wo die Lampen wie Augen über mir wachen. Meine Schritte sind klein, gezielt, ich vermeide vertraute Gesichter und wähle Pfade, die mich aus dem Blickfeld der Gemeinde tragen. In der Kälte der Nacht überprüfe ich die Reste meiner Protokolle, verbrenne vorsichtig alles, was direkten Verdacht wecken könnte, und lege falsche Spuren an. Das Entziehen fühlt sich zunächst wie Erleichterung an, doch die Flucht hinterlässt eine tiefe Leere, die kein Gepäck füllen kann. Ich finde Unterschlupf in einem verlassenen Stall am Ortsrand und lege mich auf Stroh, während meine Gedanken unablässig die Gesichter derer durchlaufen, denen ich eine Trauer verkauft habe. Die Nacht bringt keine Ruhe; stattdessen höre ich entferntes Flüstern und das gelegentliche Knarzen von Türen, als würden die Geschichten, die ich säte, bereits Wurzeln schlagen. Morgendämmerung bringt die Erkenntnis, dass physische Entfernung meine Verantwortung nicht aufhebt und dass Verzicht auf Konfrontation mich nicht vom inneren Riss befreit. Doch im Moment zwinge ich mich, weiterzuziehen, weil Bleiben zu großem Leid führen könnte und weil ich hoffe, dass Zeit die Schärfe meiner Schuld mindert. Mit jedem Schritt entferne ich mich mehr von der Gemeinschaft, und zugleich wächst die Frage, ob Flucht ein Akt des Selbstschutzes oder eine feige Kapitulation ist.

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